Die Konkurrenz drängt in den Markt; die Geschäftsführung mahnt die Komplexität interner Prozesse an; es gibt zu wenig kreative Köpfe; jede Abteilung arbeitet für sich; niemand sieht das große Ganze. Ausgangspunkt größerer Change-Projekte ist meist eine Bedrohung von außen, die Probleme im internen Zusammenspiel der Organisation auf den Tisch bringt. Doch was genau sind die Probleme, die die Wettbewerbsfähigkeit der Organisation gefährden? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht immer einfach.
Das System und die aktuelle Situation verstehen
Ein vielversprechender Weg bei derartigen Fragen Licht ins Dunkle zu bringen, ist die Kombination aus systemischen Interviews und dem Reflektierenden Team. Ziel ist es, das System kennenzulernen und sich ein Bild von der aktuellen Situation zu machen.
1. Interview
In den Interviews stellen die Beratenden viele Fragen, die sich die Organisationsmitglieder gewöhnlich nicht stellen und die viele Antworten ermöglichen. Durch das Fragen werden die Organisationsmitglieder ermutigt, die Situation neu zu beschreiben, weitere Aspekte zu beleuchten und selbst über die dahinterliegenden Themen nachzudenken. Im Ergebnis erweitern die Beteiligten im Gespräch meist ihren eigenen Blick auf die Situation bzw. nehmen im Workshop die verschiedenen Sichtweisen auf die Situation wahr.
2. Reflektierendes Team
Im Anschluss setzen sich die Beratenden zum Reflektierenden Team zusammen. Sie schildern ihre Sicht auf die Situation. Dabei würdigen sie das, was bisher erreicht wurde, formulieren Annahmen über Zusammenhänge, finden kraftvolle Metaphern und überlegen gemeinsam, was gute nächste Schritte wären.
In der Regel sind in komplexeren Transformationsprojekten zwei Berater:innen anwesend. So können im Dialog die wichtigsten Gedanken ausgetauscht werden. Wenn nur ein:e Berater:in anwesend ist, können das Reflektierende Team als Selbstgespräch simuliert bzw. die Annahmen und vielfältigen Impulse am Flipchart visualisiert werden.
Die Organisationsmitglieder hören zu. Der Vorteil: Wer zuhört, kann die Aussagen der anderen mit Abstand hören, kann innerlich abwägen, bestimmten Gedanken Bedeutung zuweisen und anderes ablehnen.
„Veränderung tritt ein, wenn es einen Freiraum für den Gedankenaustausch zwischen zwei oder mehreren Menschen gibt {…}. Unter solchen Umständen können sich neue Ideen des Erkennens oder Wahrnehmens oder Handelns entwickeln, oder neue Vorstellungen über das Ausnutzen der Möglichkeiten, die das eigene Repertoire schon bereithält.“
Tom Andersen, Erfinder des Reflecting Teams
Laut Tom Andersen ist es für Veränderungsprozesse essenziell, dass den Beteiligten nichts von außen aufgedrängt und die Integrität des Einzelnen gewahrt wird. Durch den feinen Sprachstil des Reflektierenden Teams wird die Bereitschaft für Veränderung gefördert.
3. Austausch
Im Austausch der Klient:innen im Anschluss an das Reflektierende Team entscheiden die Zuhörer:innen, was relevant ist und welche Ideen weiterverfolgt werden. Die Lösungen werden von den Organisationsmitgliedern selbst definiert. Das Beratersystem nimmt sich bewusst zurück.
Aufgabe der Berater:innen ist es hier, den Entscheidungsprozess zu moderieren:
- Was soll so bleiben, wie es ist?
- Was soll verändert werden?
- Was muss neu etabliert werden?
Meist geht es um ganz konkrete strukturelle Veränderungen und Prozessoptimierungen, aber auch um die Schärfung von Rollen und Verantwortlichkeiten sowie darum, wie Führungskräfte im Arbeitsalltag Entscheidungen beschleunigen und das gewünschte Verhalten stärker fördern und fordern können.
Erfolgsfaktoren für ein gelungenes Reflektierendes Team
Auf das nächste Level heben
Die Aufgabe der Berater:innen besteht darin, die Problembeschreibungen und Interpretationen der Organisationsmitglieder aufzugreifen und auf eine höhere Ebene zu bringen. Es werden verschiedene Sichtweisen zusammengeführt, neue Perspektiven hinzugefügt und damit eine neue, positivere Sicht auf die Organisation erzeugt.
Neutralität wahren
Ein häufig zu beobachtendes Phänomen bei Berater:innen ist eine große Überzeugung in den eigenen Ansatz. Mit dem Reflektierenden Team ist es anders. Die Sichtweise eines Beraters bzw. einer Beraterin wird unmittelbar durch eine Gegenposition entkräftet. Für beide Sichtweisen sollte es guteArgumente geben. Nur so können die Zuhörenden entscheiden, was aus ihrer Sicht passend ist.
Ungewöhnliche Impulse setzen
Wenn Organisationsmitglieder dem Gewohnten ausgesetzt sind, erscheint es belanglos. Anspruch des Reflektierenden Teams ist es daher, ungewöhnliche Ideen einzubringen. Dazu gehört auch, mal eine gewagte, provokante These aufzustellen oder „Ungesagtes“ auszusprechen. Die Kunst besteht darin, angemessen ungewöhnlich zu sein. Wenn das Neue aber zu ungewöhnlich ist, verschließen sich die Organisationsmitglieder und werden also nicht davon inspiriert. Ein Drahtseilakt.
Mit feiner Sprache punkten
Allzu häufig werden im Reflektierenden Team Appelle oder Tipps ausgesprochen – ein grober Fehler. Die geübten Berater:innen bleiben vage („Es könnte so oder so sein“, „Man könnte dies oder jenes tun“), formulieren ihre Gedanken im Konjunktiv und nutzen Formulierungen wie „sowohl als auch“,„einerseits – andererseits“. Sie kreieren bewusst Unschärfe, sodass bei den Zuhörer:innen ein klareres Bild entstehen kann. Manchmal werden sie auch als Sprachkünstler:innen bezeichnet.
Hypothesen formulieren
Systemisch arbeitende Berater:innen gehen davon aus, dass die Organisationsmitglieder selbst am besten wissen, was gut für die Organisation ist. In der Regel brauchen sie keine Ideen, was sie tun sollen, sondern eher eine Sprache dafür, worum es eigentlich geht. Sie formulieren daher im Reflektierenden Team vor allem Hypothesen und versuchen damit den Kern des Problems zu erfassen. Hypothesen sind Leitideen, die dazu dienen, die Probleme der Organisation in einem neuen, vielleicht hilfreicheren Licht zu sehen.
Unserer Erfahrung nach geht es in Organisationsentwicklungsprozessen häufig um Widersprüchlichkeiten zwischen alten und neuen Werten, um Loyalitäten und Wertschätzung, um das Spannungsfeld zwischen Qualität und Innovation, aber auch um Rollen und Verantwortlichkeiten und wie diese interpretiert werden.
„Sie haben es richtig gut erfasst. Sie verstehen, was hier abgeht. Hut ab!“, ist eine häufige Reaktion auf das Reflektierende Team, wenn dieses einen guten Job macht.
Eine besondere Herausforderung ist: Die grundlegenden Mechanismen in einer Organisation machen meistens Sinn und können von daher gar nicht schlecht geredet werden. Sie sind meist tief verwurzelt und implizit Grundlage für Widerstände in der Organisation. Sie sind in der Regel schwer zu greifen und noch schwerer im Transformationsprozess zu verändern.
Die Komplexität der Situation ist meist hoch und in jeder Erklärung steckt ein Fünkchen Wahrheit. Die Aufgabe der Berater:innen ist es, die Komplexität anzuerkennen und gemeinsam mit den Organisationsmitgliedern geeignete Interventionen auf Organisationsebene zu entwickeln.
Grundregeln des Reflektierenden Teams
Art und Weise
- Sei im guten Dialog mit deinem Beraterkollegen bzw. deiner Beraterkollegin, vermeide Blickkontakt zu den Klient:innen
- Sprich in der 3. Person über das Klientensystem
- Formuliere Gedanken im Konjunktiv („Es könnte sein“, „mich beschäftigt …“, „möglicherweise …“)
- Sei angemessen ungewöhnlich
- Halte dich kurz, bleibe vage, sei neutral
Inhalte
- Beginne mit Komplimenten für das Klientensystem
- Würdige das Gelingende / die Komplexität
- Zeige Dichotomien / Wechselwirkungen auf
- Finde auch Hypothesen über „Ungesagtes“ oder über „das, worüber nicht gesprochen wird“
- Verwende kraftvolle Metaphern und Bilder
- Generiere unterschiedliche Ideen („dies oder jenes“, „so oder“) und lade zum Experimentieren ein für einen Schritt in die richtige Richtung
Viele Möglichkeiten der Anwendung
Veränderungsprozesse auf Organisationsebene sind vielschichtig und werden über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren geplant. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass an verschiedenen Stellen der Organisation mit unterschiedlichen Stakeholdern Reflexions- und Austauschprozesse initiiert, Veränderungsideen entwickelt und umgesetzt werden.
Entsprechend vielfältig sind die Anwendungsmöglichkeiten des Reflektierenden Teams:
- Auftragsklärungsgespräche
- Systemdiagnose (Rückspiegelung nach Einzel- und Gruppeninterviews)
- Workshops zur Unternehmensstrategie /Struktur / Leitbildentwicklung
- Bereichsübergreifende Change-Workshops
- Konzeptentwicklung in Fachteams
- Review im Kernteam zum Prozessverlauf
- Großgruppenveranstaltungen
Die Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen. Das Reflektierende Team als Methode ist sehr kraftvoll, um Lösungsideen für aktuelle Herausforderungen zu generieren, verfahrene Situationen aufzulösen und den weiteren Transformationsprozess zu planen. Es ist ein fantastisches Interventionstool für Organisationsberater:innen.